Die erste Idee - trägt sie einen ganzen Roman?
von Bernd Köstering, Autor und Schreib-Coach
Die erste, leise Idee zu einem Roman kann Ihnen irgendwo zufliegen. In einem Café - sorry, das war vor der Pandemie - oder beim Lesen der Zeitung. Während eines einsamen Waldspaziergangs oder im hitzigen Gespräch mit einem Querdenker. Schnell notiert, damit sie nicht in Vergessenheit gerät - gut so! Doch dann, beim zweiten Durchdenken, Tage später, kommen Ihnen Zweifel. Taugt diese Idee wirklich? Ist sie so valide, dass sie einen ganzen Roman trägt? Vielleicht ist sie eher für eine Kurzgeschichte geeignet - das wäre ja auch eine Variante. Immerhin verlangen die Verlage von einem Roman 250 bis 350 Seiten. Die Novelle als Kunstform zwischen Kurzgeschichte und Roman ist in der modernen Literatur kaum noch zu finden.
Wie also können Sie die zugeflogene Idee einer Prüfung unterziehen?
Natürlich ist es möglich, eine nichtrepräsentative Umfrage unter Verwandten, Freunden und Autorenkolleginnen durchzuführen. Um in die Nähe einer gewissen Aussagekraft zu gelangen, müssten Sie 20 bis 30 Personen befragen, aufgeteilt in Männer und Frauen verschiedenen Bildungsstands, Vielleserinnen und Wenigleser, mit und ohne Literaturexpertise und, und, und. Schwierig! Autorenkollegen zu befragen ist im Übrigen nicht ohne Risiko, denn jeder ist auf der Suche nach neuen Ideen.
Das „Was-wäre-wenn?“-Prinzip
Eine einfache Methode der Selbstüberprüfung ist diese: Sie bilden aus Ihrer ersten Idee einen „Was-wäre-wenn?“-Satz. Sie haben zum Beispiel die Eingebung, über eine Hochzeit zu schreiben. Der Satz könnte also lauten:
„Was wäre, wenn Hans und Petra heiraten würden?“
Nun ja, Sie merken sofort, dass diese Konstellation ohne weitere Prämissen nicht besonders interessant klingt - gähn! - und keinen Roman trägt. Das einzig Interessante daran ist, dass Hans und Petra aufgrund ihres Vornamens sicher schon ein fortgeschrittenes Alter erreicht haben und dies Komplikationen mit sich bringen könnte - na ja! Wir schreiten voran:
„Was wäre, wenn Lukas und Aisha heiraten würden?“
Jetzt wird es schon interessanter, denn Lukas ist wahrscheinlich aus dem deutschen, Aisha aus dem türkischen oder arabischen Kulturkreis. Da kann man sich die Komplikationen vorstellen und schon hat der potenzielle Leser Bilder im Kopf. Dennoch - reicht das? In der heutigen Zeit mit der vielerorts üblichen Vermischung der Kulturen? Nein! Nicht ohne zusätzliche Prämissen.
„Was wäre, wenn Oliver und Giulia heiraten und sich im Laufe der Handlung herausstellt, dass Giulias Vater ein Mafiaboss ist?“
Und schon läuft im Kopf der potenziellen Leserin ein Film ab. Man sieht Oliver im Hochzeitsanzug auf der Terrasse einer großen Villa in Süditalien stehen, der Schwiegervater klopft ihm jovial auf die Schultern und fragt, welche Position in der Firma er denn wahrnehmen wolle. Vielleicht die Leitung der Inkasso-Abteilung? Ja, so geht´s!
Noch einmal zurück zu Hans und Petra. Viel interessanter wäre dieser Satz:
„Was wäre, wenn Hans, der Standesbeamte, und Petra, die Hochzeitsplanerin, sich scheiden ließen?“
Wow! Das zieht schon viel mehr. Wenn die Scheidung öffentlich würde, erhielte Petra dann noch Aufträge? Bekäme Hans Ärger mit seinem Chef?
Aber bitte beachten: Dies ist nur der Anfang. The very beginning! Ein wichtiger erster Schritt, doch lange noch kein Roman. Immerhin, wir wissen alle, dass selbst die Besteigung des höchsten Berges mit dem ersten Schritt beginnt.
Hier noch drei Beispiele:
Die Bilder, die beim Lesen dieser Zeilen in Ihrem Unterbewusstsein ablaufen, muss ich Ihnen nicht schildern. Aus diesen drei „Was-wäre-wenn?“- Sätzen sind folgende Romane entstanden:
- Was wäre, wenn bekannt würde,
dass die weltweiten Erdölreserven nur noch 4 Wochen reichen
- Was wäre, wenn sich ein Autor unter falschem Namen Zutritt zu einer umstrittenen Partei verschaffen würde, um darüber einen Roman zu schreiben?
- Was wäre, wenn Goethes berühmte Italienreise gar nicht wirklich stattgefunden hätte?
Zum Autor dieses Artikels:
Bernd Köstering wurde 1954 in Weimar/Thüringen geboren und lebt heute in Offenbach am Main. Er entwickelte mit dem Gmeiner-Verlag das Genre des Literaturkrimis, in dem ein bekanntes Werk der Weltliteratur den jeweiligen Fall auslöst oder auflöst. Seine Goethekrimis um den Privatermittler Hendrik Wilmut haben unter Fans inzwischen Kultcharakter. Köstering veröffentlichte bisher sieben Romane, zahlreiche Kurzgeschichten und Krimirätsel. Außer dem Schreiben gilt seine Leidenschaft drei Damen und drei Gitarren.
Weitere Information: www.literaturkrimi.de
Zu den Kursen:
Spielen Sie schon lange mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben? Und haben es bisher noch niemandem verraten, noch nicht einmal Ihrer eigenen Mutter? Dann sind Sie richtig bei Kösterings Kursen. Seit 2019 leitet er Wochenendfortbildungen zum Thema „Wie entsteht ein Roman?“ an der VHS Offenbach und der VHS MTK in Hofheim a.Ts. Dabei wird der Werdegang eines Romans von der ersten Idee bis zum Ladentisch aufgezeigt. Was ist ein Plot? Wie bewirbt man sich bei einem Verlag? Was ist ein Exposé? All diese Fragen wird Köstering vertrauensvoll beantworten. Die nächste Kurs im Online-Format findet am 8.-9. Mai 2021 statt - alle Interessenten von nah und fern können teilnehmen. Anmeldung HIER.
Anmerkung: Alle Begriffe in weiblicher bzw. männlicher Form gelten für alle Geschlechter.