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Gift ist nicht immer tödlich

Es war im Fernsehen, und es schwirrt mir immer noch im Kopf: Da starb das Mordopfer an einer Überdosis Midazolam. Die Quelle des Wirkstoffs: der schrullige Inselarzt. Er hatte noch einen Restbestand in seinem Depot. Die Tabletten wurden dem Opfer heimlich in ein Glas Whisky gegeben, umgerührt, und das Opfer hat nichts gemerkt, ist einfach tot umgefallen.

Ich hätte platzen können! So viel Unsinn auf einmal. Aber der Reihe nach:

Ich hatte gelernt, mit Benzodiazepinen* kann man sich nicht umbringen!

Ich höre schon den Zwischenruf: Die Dosis macht’s! Das hat uns bereits im 16. Jahrhundert Paracelsus gelehrt. Stimmt. Also schauen wir uns die Dosis an, die wirklich letal ist: Die Daten wurden an Nagern erhoben. Zwar bringen wir in unseren Krimis selten Ratten oder Mäuse um, doch deren Stoffwechsel gleicht so weit dem menschlichen, dass durchaus Rückschlüsse auf eine tödliche Dosis beim Menschen gezogen werden dürfen.

Allerdings gilt nicht: 1 Ratte ist gleich 1 Mensch. Die Dosierungen werden in mg/kg Körpergewicht angegeben. So lassen sich die notwenigen Mengen zur Tötung meines Mordopfers leicht ausrechnen. Nehmen wir zum Beispiel das Lorazepam: Für diese Substanz ist die Dosis, bei der die Hälfte der Versuchstiere stirbt – abgekürzt LD50 – mit 4.500 mg/kg Körpergewicht angegeben. Das hieße: Man stelle sich einen Mann mit 80 kg Körpergewicht vor: Da brauche ich, um ihn ins Jenseits zu befördern, mindestens 360 g Lorazepam, und da zweifle ich, ob das wirklich reicht. Aber selbst bei Valium, das bedeutend tödlicher ist, brauche ich etwa 20 g, und das ist auch noch nicht ganz sicher.

Damit habe ich meinen Protagonisten aber noch nicht umgebracht. Denn, wie in Filmen gerne gezeigt, unauffällig versteht sich, werden Tabletten genommen. Da sich 1 mg Substanz so schlecht in eine Tablette pressen lässt, kommen eine Menge Hilfsstoffe dazu, dass die Tablette dann mindestens 100 mg wiegt (meist mehr!). Bleiben wir bei 100 mg, das ist einfacher zu rechnen, dann müsste unser Mordopfer 36.000 g oder 36 kg von Lorazepam-Tabletten einnehmen, und alles, versteht sich, wird vorher unauffällig in das Glas Whisky eingerührt. Selbst bei Valium brauchen wir bei 5-mg-Tabletten (hier rechnen wir der Einfachheit halber ebenfalls mit 100 mg pro Tablette) für unseren 80-kg-Mann immer noch mindestens 4.000 Tabletten. Nur nebenbei bemerkt: Hilfsstoffe, die zur Herstellung dieser Darreichungsform notwendig sind, lösen sich nicht alle auf, sondern zerfallen eher krümelig.


Deshalb, liebe Kollegen, wenn ihr eure Mordopfer vergiftet, macht euch vorher schlau. Wikipedia ist dafür durchaus eine brauchbare Quelle.

Aber bitte: Folgert nicht daraus, diese Substanzen seien ungefährlich! Sie haben zum Teil ein erhebliches Suchtpotenzial. Darüber hinaus hat zum Beispiel Flunitrazepam als Date-Rape-Droge traurige Berühmtheit erlangt. Das Opfer kann sich kaum an die Geschehnisse erinnern. Doch bevor ihr diese Anwendung in eurem Roman verwendet: Die Hersteller haben inzwischen die Rezeptur so weit verändert, dass die Tabletten bitter schmecken und sich Lösungen blau färben. Außerdem sind sie teilweise dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. Euer Protagonist müsste sie sich dann auf dem Schwarzmarkt besorgen.

Lasst euch dennoch nicht abschrecken: Denkt einfach über ein anderes Gift nach!

*Benzodiazepine sind starke Beruhigungsmittel, sie haben eine krampflösende Wirkung und werden zum Teil unterstützend bei Narkosen eingesetzt; sie werden auch als Psychopharmaka, speziell bei Angst- oder Panikattacken, verwendet. Zu ihnen gehören Wirkstoffe wie Diazepam (= Valium), Midazolam (= Dormicum), Oxazepam (= Adumbran), Lorazepam (= Tavor), Flunitrazepam (= Rohypnol). Ähnliche Indikationen und eine ähnliche chemische Struktur haben auch Zolpiderm oder Zopiclon.

Mehr über Sibyl Quinke hier.