Seelengrab
Ein Fall für Hirschfeld und Kirchhoff
Nadine Buranaseda
DP DIGITAL PUBLISHERS
320 Seiten
So dunkel die Seele, so tief der Abgrund ...
Der spannende erste Fall für Hirschfeld & Kirchhoff
Kriminalhauptkommissar Lutz Hirschfeld ließ sich gerade erst von Berlin nach Bonn versetzen, doch bevor der junge Beamte seine Koffer ausgepackt hat, wird am Rheinufer die unbekleidete Leiche einer jungen Frau entdeckt. Die erste äußere Inspektion der Toten ergibt keinerlei Hinweis auf die Todesursache. Zusammen mit seinem neuen, wenig gesprächigen Partner Peter Kirchhoff nimmt Hirschfeld die Ermittlungen auf. Ein weiterer Knochenfund bringt die Mordkommission schließlich auf die Spur eines grausamen Serientäters, der seine Opfer nach ganz bestimmten Kriterien auszuwählen scheint: jung und weiblich. Als eine weitere Frau verschwindet, beginnt für das ungleiche Ermittlerduo ein gefährlicher Wettlauf gegen die Zeit ...
Erste Leser:innenstimmen zur Neuauflage
"Düsterer, aber höchst spannender Ausflug in die menschlichen Abgründe ..."
"Fesselnde Krimiunterhaltung mit gut gezeichneten Charakteren – freue mich auf die Reihe!"
"Hirschfeld und Kirchhoff arbeiten hier an einem Fall, der es wirklich in sich hat und in den Bann zieht."
"Packende Ermittlungen, gute Recherche und ein rundum empfehlenswerter Krimi!"

© Buranaseda
Nadine Buranaseda
Jahrgang 1976, ist gebürtige Kölnerin mit thailändischen Wurzeln väterlicherseits und lebt in Bonn. Sie studierte Deutsch und Philosophie und wurde im Hörsaal entdeckt: Für einen ihrer letzten Scheine, den sie für die Anmeldung zum Ersten Staatsexamen benötigte, durfte sie statt einer analytischen Arbeit einen Kurzkrimi schreiben, den ihr Professor einem Verlag vorgelegt hat. 2005 veröffentlichte sie ihren ersten Krimi – einen Jerry-Cotton-Roman, dem mehr als ein Dutzend folgten. 2007 wurde sie für den Agatha-Christie-Krimipreis nominiert. Mit "Seelengrab" erschien 2010 ihr erfolgreicher erster Bonnkrimi. 2011 gehörte sie zu den vier Stipendiaten des Tatort-Töwerland-Krimistipendiums. Im Herbst 2012 erschien die Fortsetzung ihres Debüts "Seelenschrei" um die Ermittler Lutz Hirschfeld und Peter Kirchhoff. Von 2015 bis 2018 war Nadine Buranaseda Chefredakteurin des SYNDIKATs. 2016 war sie Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nach zweieinhalb Jahren als feste Lektorin bei Bastei Lübbe hat sie sich nun mit www.typo18.de als Lektorin und Autorencoach selbstständig gemacht und arbeitet aktuell am dritten Bonnkrimi und an einem Thriller.
Rezensionen
Die detaillierte Darstellung der Ermittlungsarbeit ist gleichermaßen unterhaltsam wie informativ.
Jörg Kijanski, Krimicouch
„Seelengrab“ ist ein dicht geschriebener Krimi. Er kommt ohne unnötige Umschweife aus. Im Fokus des Krimis steht die Handlung – die Ermittlung. Das Buch erzählt zwar auch von den persönlichen Schicksalen der Hauptprotagonisten Hirschfeld und Kirchhoff, dies dient aber dem Kennenlernen und Verstehen der Protagonisten und nicht dem Selbstzweck.
Kevin Kasper, Hörbuchsprecher
Drei Fragen an die Autorin
Dein Lieblingswort?
Pfütze. Dazu bin ich Wortpatin von Treppchen (http://www.wortpatenschaft.de). Ein Geschenk meiner besten Freundin Gitte, die mal ein Treppchen in einem meiner Jerry-Cotton-Romane entdeckt hat. Das fanden wir beide recht kurios und lustig. Denn normalerweise bin ich keine Freundin von Diminutiven, als Lektorin schon dreimal nicht.
Dein Sehnsuchtsort?
Überall da, wo mein Mann, der Hund und die Katzen sind.
Deine persönlich meistgehasste Frage?
Ist das ein Künstlername? Nein.
Leseprobe
Vergessen Sie nie, der menschliche Geist ist als Totschläger entstanden und als ein ungeheures Instrument der Rache.
Gottfried Benn
Prolog
Kann nicht atmen … atmen … atmen! Gleich bin ich weg. EINS. ZWEI. DREI. Nicht mehr da. Dann ist es vorbei. VIER. FÜNF. SECHS. NICHTS. Mein Herz schlägt nicht mehr. Jetzt, jetzt ist es so weit!
Wo bin ich? Ist da draußen jemand? Hilfe! Hilfe! Ich bin hier! Warum hört mich niemand? Ganz allein hier unten. Es ist so dunkel. Bin mir nicht sicher, ob meine Augen auf sind oder zu. Kneife sie so fest zusammen, dass sich mein Gesicht zusammenzieht. Jetzt ist es einfacher. Oder denk ich das nur?
Mein Hals kratzt, und Rotz läuft mir aus der Nase. Wie lang weine ich schon? Eine Stunde? Einen Tag? Ich will raus hier!
Kann mein linkes Bein nicht mehr bewegen. Den Arm darunter auch nicht. Eben hat es noch wehgetan. Jetzt spüre ich nichts mehr. Nur meine angewinkelten Knie. Drehe den Kopf und stoße wieder an die Innenwand. Versuche, einen Buckel zu machen. Jetzt ist es noch schlimmer. Als würde ich zerquetscht. Drücke stattdessen mit der anderen Hand gegen den Deckel. Oder ist das unten? Versuche es immer wieder, aber es hilft nichts.
Meine Fingernägel sind eingerissen vom Kratzen. Das Leder stinkt. Mir wird schlecht davon. Darf mich nicht übergeben. Sonst …
Was war das für ein Geräusch? Wenn die Ratten kommen, sterbe ich vor Angst. Sie haben rote Augen und lange, spitze Zähne. Damit nagen sie mir das Fleisch von den Knochen, bis nichts mehr davon übrig ist. Das ist auch den anderen passiert.
Da! Ein Scharren. Viele Pfoten und nackte Rattenschwänze, die auf den Boden schlagen. Sie kommen immer näher und näher. Ich will schreien, doch meine Stimme ist weg.
Vielleicht bin ich schon tot. Ist das die Hölle?
1
Der Schnee schien immer dichter zu fallen, als Lutz Hirschfeld auf der anderen Straßenseite gegenüber der Rheinischen Landesklinik wartete und seine zweite Zigarette rauchte. Er hatte den Kragen seines schwarzen Ulster-Mantels hochgeschlagen und beobachtete den Eingang zur Bonner Psychiatrie. Der schwere, innen mit Baumwollflanell gefütterte Tweedstoff schützte ihn vor dem eisigen Wind, der über den Kaiser-Karl-Ring pfiff. Seine schwarzen Converse-Stoffturnschuhe, die durch den Schneematsch bereits nach wenigen Schritten klamm gewesen waren, untergruben allerdings Hirschfelds Plan, den Besuch bei seinem Vater durch eine weitere Zigarette hinauszuzögern. Er nahm einen letzten Zug, schnippte die Kippe weg, die leise zischend in einer Schneewehe versank, und setzte sich in Bewegung.
Als Hirschfeld den Ring überquerte, hielt in einiger Entfernung eine Straßenbahn und entließ eine Gruppe Frauen mittleren Alters in schwarz-gelb geringelten Bienenkostümen, unter denen sich ihre dicken Winterjacken deutlich abzeichneten. Sie hakten sich fröhlich unter und liefen schwankend auf ihn zu. Aus ihren gelben Lockenperücken ragten Fühler, die bei jeder Bewegung hin und her tanzten. Ihrem Gang und den rot glühenden Wangen nach zu urteilen, hatten die Frauen an diesem Morgen bereits ein paar Schnäpse intus. Als die Bienen ein Lied anstimmten und ihm zuwinkten, beschleunigte Lutz Hirschfeld seine Schritte. Textfetzen, etwas über kölsche Mädchen und etwas Unaussprechliches, das wie „Spetzebötzjer“ klang, spitzenbesetzte Unterwäsche oder so etwas in der Art, wehten zu ihm herüber, als er das Gelände der Rheinischen Landesklinik betrat.
Er widerstand dem Impuls, sich noch einmal umzusehen, und folgte dem gepflasterten breiten Einfahrtsweg, den mehrere Gebäude säumten. Zu seiner Linken führte ein spiralförmiger Anbau aus Beton zu einem Parkdeck. Rechter Hand erstreckte sich nach wenigen Metern ein lang gezogenes rotes Backsteinhaus älteren Baujahrs. Aus der schneebedeckten Grünfläche davor ragte ein Dutzend hochgewachsener Bäume, deren kahle Äste sich im Wind wiegten.
Plötzlich flatterte irgendwo ein Vogel auf. Reflexartig wandte Lutz Hirschfeld den Kopf und entdeckte zu seiner Überraschung einen grünen Papagei, der sich gerade wieder auf einem anderen Zweig niederließ. Hirschfeld ließ den Blick schweifen und bemerkte weitere grüne Tupfer in den Ästen.
Noch mehr Tiere, dachte er und musste unweigerlich lächeln. Wie viele Patienten oder Besucher hatten sich auf dem Weg in die Klinik schon gefragt, ob die Papageien nicht ihrer Fantasie entsprangen? Zugegeben, der Anblick irritierte ihn. Aber Hirschfeld vertraute seinen Sinnen und zweifelte keine Sekunde daran, dass die Vögel real waren. Mit diesem Gedanken steuerte er auf den Haupteingang der Klinik zu, der von mehreren verwaisten Blumenkübeln flankiert war. Die automatischen Glastüren glitten zur Seite und gaben den Weg ins Foyer frei.
„Kann ich Ihnen helfen?“, empfing ihn eine rundliche blonde Frau im Glaskasten gegenüber dem Eingang.
Sie saß vor einem Computer mit einem Flachbildschirm. Daneben stand ein Kofferradio, aus dem ein Karnevalsschlager plärrte.
„Ja, ich möchte meinen Vater Heinrich Hirschfeld besuchen.“
„Einen Augenblick.“ Die Frau ließ ihre grün lackierten Fingernägel über die Tastatur gleiten. „Sie müssen zur Station Süd eins A, Zimmer fünf. Gehen Sie einfach geradeaus. Dann nehmen Sie das Treppenhaus in den ersten Stock. Dort halten Sie sich links und folgen der Beschilderung. Wenn Sie den Verbindungsgang zum Südflügel passiert haben, können Sie die Station nicht mehr verfehlen.“
„Danke.“ Hirschfeld verabschiedete sich.
Auf dem Weg in die Geschlossene versuchte er, nicht darüber nachzudenken, welcher Umstand ihn hergeführt hatte. Er war hier, und das musste fürs Erste genügen, bevor er es sich anders überlegte.
Wenig später stand er vor der Akutstation. Hirschfeld drückte auf die Klingel und wartete. Er war gerade im Begriff, erneut zu klingeln, als er hörte, wie jemand von der anderen Seite einen Schlüssel ins Schloss steckte. Im Rahmen der schweren Holztür tauchte Sekunden später ein blasses Gesicht auf, das einem schmalen jungen Mann gehörte. Er trug keinen Kasack, nur der Schlüsselbund in seiner Hand identifizierte ihn als Pfleger.
„Guten Morgen“, sagte er in einem Tonfall, der weder gelangweilt klang noch von großem Interesse zeugte, „zu wem möchten Sie bitte?“
Hirschfeld wiederholte sein Anliegen.
Der Pfleger nickte und deutete den Gang entlang. „Die letzte Tür auf der rechten Seite.“
Damit verschwand er im Personalraum.
Als Hirschfeld das Zimmer fast erreicht hatte, bog ein älterer Herr in weißem Kittel um die Ecke. Sein graues Haar stand leicht zerzaust von seinem runden Schädel ab. Er trug eine Brille mit Goldrand, die nicht die richtige Stärke zu haben schien, denn er kniff unentwegt die Augen zusammen.
„Professor Konrad?“ Hirschfeld war dankbar für den Aufschub, den eine kurze Unterredung mit dem behandelnden Arzt bedeuten würde. „Mein Name ist Hirschfeld. Hatten wir wegen meines Vaters miteinander telefoniert?“
Der Mann runzelte die Stirn, dann erhellte sich sein Gesicht. „Ja natürlich.“ Er lächelte ihn freundlich über den Brillenrand hinweg an.
„Meine Wohnungsauflösung in Berlin hat leider länger gedauert als ursprünglich geplant. Ich bin daher erst gestern Abend in Bonn angekommen.“
„Schön, dass Sie bereits heute Morgen den Weg zu uns gefunden haben. Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Umso mehr freue ich mich, Sie zu sehen.“
„Danke.“ Hirschfeld löste sich aus dem langen Händedruck, den der Professor ihm aufgenötigt hatte.
„Darf ich Ihnen vielleicht unsere Station zeigen, bevor Sie zu Ihrem Vater gehen? Während des Rundgangs hätten wir Gelegenheit, noch ein wenig über ihn zu sprechen.“
„Geht es ihm besser?“ Hirschfeld folgte Professor Konrad weiter in das Innere der Station.
Die meisten Türen, die sie passierten, waren geschlossen.
„Lassen Sie mich eines vorweg sagen: Ihr Vater ist bei uns in den besten Händen. Fortschritte zeichnen sich jedoch in den meisten Fällen erst nach geraumer Zeit ab. Nach einer Woche Klinikaufenthalt dürfen Sie nicht allzu viel erwarten, Herr Hirschfeld.“
„Verstehe.“
„Seien Sie ein wenig nachsichtiger mit Ihrem Vater und sich selbst. Für die meisten Angehörigen ist es ein Schock, wenn sie erfahren, dass mit ihnen nahe stehenden Personen etwas passiert ist, das nicht in die eigene Erfahrungswelt passt.“
Das ist milde ausgedrückt, dachte Hirschfeld und blickte sich um. Sie hatten das Ende des Gangs erreicht, der in einen Tagesraum mit mehreren Tischen mündete. Von dort gingen drei weitere Flure ab. Als sie weiterliefen, registrierte Hirschfeld, dass der rheinische Karneval auch nicht vor der Geschlossenen Halt gemacht hatte. Von den Neonlampen unter der Decke hingen bunte Luftschlangen. Auf Luftballons hatte man dagegen verzichtet.
„Das ist unser Stützpunkt, das Herzstück unserer Station“, unterbrach der Professor seinen Vortrag und deutete auf einen großen Glaskasten zu ihrer Linken. „In diesem Büro laufen im Prinzip alle Fäden zusammen. Hier findet die Medikamentenausgabe statt, werden der Therapiekalender geführt und die Dienstpläne gemacht.“
„Wie viele Patienten versorgen Sie zurzeit auf Ihrer Station?“
„Alle Zimmer sind belegt, das heißt, wir haben momentan zwanzig Patienten.“
Irgendwo schlug eine Tür. Dann hörten sie eine Frauenstimme, die aus einem der Patientenzimmer kam.
„Hunderteinundzwanzig, hundertzweiundzwanzig, hundertdreiundzwanzig, hundertvierundzwanzig …“
„Daran dürfen Sie keinen Anstoß nehmen“, sagte der Professor schulterzuckend und nickte in die Richtung, aus der die Stimme drang. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch den Fernsehraum, der sich, wie Sie sich vielleicht denken können, bei allen Patienten größter Beliebtheit erfreut. Und sollten Sie das Bedürfnis nach einer Zigarette haben, tun Sie sich keinen Zwang an. Dort drüben haben wir unsere Raucherecke.“
„… hundertsechsundfünfzig, hundertsiebenundfünfzig, hundertachtundfünfzig. Hilfe!“
Hirschfeld winkte ab. „Danke, vielleicht nachher.“
Er hatte fürs Erste genug gehört und gesehen und folgte dem Professor nur aus reiner Höflichkeit in den angrenzenden Fernsehraum. Als sie das Zimmer betraten, hoben mehrere Patienten die Köpfe, um sich sofort wieder auf den Röhrenfernseher zu konzentrieren. Die meisten trugen Trainingsanzüge oder Morgenmäntel über ihren Schlafanzügen. Nur zwei von ihnen hatten an diesem Tag den Freizeitlook gegen normale Alltagskleidung getauscht. Über den Bildschirm an der Kopfseite des Raums flimmerte die Liveübertragung einer Karnevalsveranstaltung.
„In Berlin kennen Sie so etwas sicher nicht“, sagte der Professor nachsichtig. „Die Erstürmung des Beueler Rathauses ist jedes Jahr an Weiberfastnacht der Auftakt zu den jecken Tagen, wie man hier im Rheinland sagt. Nach Ihrem Besuch sollten Sie sich auch ins Getümmel stürzen, Herr Hirschfeld. Karneval ist in unserer Region wirklich ein einmaliges Erlebnis.“
„Das glaube ich Ihnen gerne.“ Hirschfeld beschloss in diesem Augenblick, sich nachher ein Taxi zu nehmen, um von weiteren Zeugnissen Rheinischen Frohsinns verschont zu bleiben.
„Na, Helmuth, mal wieder eine Besucherführung gemacht?“ Der Pfleger von vorhin tauchte unvermittelt hinter ihnen auf und klopfte Hirschfelds Begleiter auf die Schulter. „Wie hast du es diesmal geschafft, an den Kittel heranzukommen? Bei deiner letzten Therapiesitzung?“
Helmuth nickte schelmisch und fuhr sich durch die abstehenden Haare. „War ein Kinderspiel.“
„Gut, du hattest deinen Spaß, mein Lieber. Nun zieh den Kittel wieder aus und gesell dich zu den anderen. Wir sprechen später noch einmal darüber.“
„Zu Befehl.“ Der falsche Professor kicherte, tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn und entledigte sich des Kittels. „Aber die Lesebrille darf ich behalten? Damit klappt es noch besser, habe ich festgestellt.“
„Treib es nicht zu bunt, mein Freund.“ Der Pfleger nahm dem Alten die Brille ab.
„War mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen“, verabschiedete sich Helmuth.
„Die Freude lag ganz auf meiner Seite.“ Hirschfeld hatte es plötzlich nicht mehr eilig, der Psychiatrie den Rücken zu kehren. Der Gedanke, dass sich sein Vater in Gesellschaft solcher Mitpatienten befand, beruhigte ihn irgendwie.
„Nehmen Sie ihm den Scherz nicht übel“, wandte sich der blasse Pfleger an Hirschfeld, nachdem sie Helmuth im Fernsehraum zurückgelassen hatten.
„Dazu besteht keine Veranlassung.“
„Schön, dass Sie das sagen. Wir hatten auch schon andere Reaktionen.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Doch ich sage immer, Helmuth ist der lebende Beweis dafür, dass der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn ein schmaler ist. Und ich kann Sie beruhigen, Sie sind nicht der erste und werden nicht der letzte Besucher sein, der auf seine kleine Einlage hereinfällt.“
„Ein gewisses schauspielerisches Talent kann man ihm in der Tat nicht absprechen.“
Sie waren inzwischen wieder an Zimmer 5 angelangt.
„Ich weiß nicht, was Helmuth über Ihren Vater erzählt hat, falls Sie über ihn gesprochen haben. Vielleicht so viel, er ist vor drei Tagen von der Nacht-und-Not auf unsere Station verlegt worden und hat sein Zimmer bisher nicht verlassen. Auf der Notstation mussten die Kollegen ihn nach dem Vorfall erst einmal ruhigstellen und fixieren. Wenn er wieder einen Schub bekommt, wird das sicherlich erneut erforderlich sein. Momentan ist das aber zum Glück nicht notwendig. Vielleicht können Sie Ihren Vater dazu bewegen, mit Ihnen eine Runde durch die Station zu gehen. Ich denke, das würde ihm ganz guttun.“
„In Ordnung, ich werde mein Bestes geben.“ Hirschfeld drückte die Türklinke hinunter.
2
Fahle Sonnenstrahlen sickerten durch einen Spalt zwischen den Holzbrettern. Mühsam öffnete sie die Augen und nahm undeutlich den Wechsel von Licht und Schatten wahr. Irgendwo in der Nähe musste sich ein Fenster befinden. Sie konzentrierte sich auf die Schemen, die wie lange knorrige Finger nach ihr griffen. Nach einer Weile erkannte sie, dass sich ein blattloser Ast draußen im Wind wiegte und das Schattenspiel verursachte.
An die vergangenen Stunden konnte sie sich nur vage erinnern. Das letzte Mal, als sie bei Bewusstsein gewesen war, hatte sie undurchdringliche Finsternis umgeben. Wieder fragte sie sich, wie lange sie schon hier war. Ein paar Stunden? Einen Tag? Oder länger? Ihrer trockenen Kehle nach zu urteilen, war mindestens eine Nacht vergangen.
Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Unter ihrer Schädeldecke pochte ein brennender Schmerz. Als sie versuchte sich zu bewegen, rollte er wie eine Welle durch ihren gekrümmten Körper. Sie stöhnte auf und biss auf den Knebel, während ihre Hand- und Fußfesseln tiefer in ihre Gelenke schnitten. Tränen der Wut, in die sich kalte Panik mischte, schossen ihr in die Augen und perlten ihre Wangen hinab.
Verzweifelt sehnte sie sich in die Bewusstlosigkeit zurück. Nichts mehr hören. Nichts mehr sehen. Nichts mehr spüren. Sie war mutterseelenallein, und niemand würde ihr helfen. Wahrscheinlich vermisste sie nicht einmal jemand.
Nach einer Weile verebbte ihr Weinen in ein erschöpftes Schluchzen. Die Zweige vor dem Fenster bewegten sich jetzt ganz sachte. Noch lebte sie, auch wenn sie nicht wusste, was gerade mit ihr geschah. Während sich ihr Blick weiter an die tanzenden Schatten heftete, nahm ein Gedanke immer deutlichere Konturen an. Sie würde sich nicht ohne Gegenwehr in ihr Schicksal ergeben. Ihr Leben, so war es ihr noch vor Kurzem erschienen, hatte gerade erst begonnen. Wenn sie überleben wollte, musste sie sich so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis befreien.
Obwohl ihre linke Körperhälfte taub war, versuchte sie, sich auf den Rücken zu drehen. Bereits nach wenigen Zentimetern stieß sie auf Widerstand. Die Kiste, in der sie gefangen war, konnte kaum größer sein als ein Schrankkoffer. Sie hielt inne, um noch einmal Atem zu holen. Dann spannte sie ihre Muskeln erneut an und drückte mit Knien und Fußsohlen gegen die massiven Seitenwände. Sofort schmerzten ihre Fingerknöchel, da sie mit dem vollen Gewicht ihres Rumpfes rücklings auf ihren Händen lag. Als sich nichts tat, nahm sie die Schultern dazu. Keuchend bäumte sie sich auf, bis sie die Kräfte verließen. Schwer fiel sie auf den Holzboden zurück und spürte deutlich, wie das Blut in ihren Ohren rauschte. Nur noch wenige Augenblicke und sie würde ohnmächtig werden. Bevor die Schwärze über ihr zusammenschlug, vernahm sie entfernt ein Geräusch. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Bewusstlosigkeit an, doch es war bereits zu spät.
Gewinnspiel
Gewinnspielfrage:
Nach welchem speziellen Kriterium sucht der Mörder seine Opfer aus?
Hinweise finden sich in diesem Podcast:
https://meinpodcast.de/sprenger-spricht/48-seelengrab-brandmale-in-der-radio-konferenz
„Seelengrab“
1. Preis: Hörbuch
2. Preis: Print
3. Preis: E-Book
Die richtige Antwort bitte bis zum 3. Januar 2022 einsenden an bur@naseda.de.
Teilnahmeberechtigt ist jede:r ab 16 Jahren. Bei mehr als drei richtigen Antworten entscheidet das Los. Die Gewinne stellt freundlicherweise der dp DIGITAL PUBLSIHERS Verlag zur Verfügung und versendet sie auch. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.