Leseprobe aus "Mit jeder Faser"
Auf dem Blatt waren zwei Objekte abgebildet. Oben war eine
fotografische Darstellung einer der blauen Fasern, die sich an Hayats
Hals gesichert hatte. Darunter befand sich ein Diagramm auf dem die
exakte chemische Zusammensetzung der Kunststofffaser dargestellt
war.
(Schweigen. Von Bandstelle 02:11:34 bis 02:13 :07)
Paul Lückner schien alles um sich herum vergessen zu haben. Sein
Blick, der bis dahin völlig wach und nervös zwischen Volland und
Verena hin und her gehuscht war, klebte nun förmlich regungslos an
dem Blatt Papier das zwischen den Vernehmungsbeamten und ihrem
Kontrahenten mitten auf der Tischplatte lag.
L.: „Was… (Hüsteln) was… ist das?“
G.: „Das hier oben, Herr Lückner, das ist die Aufnahme eines
Lichtmikroskops. Sie zeigt eine winzig kleine blaue PolypropylenFaser. Diese Faser stammt, wie hunderte andere winzig kleine blaue
Polypropylen-Fasern auch, vom Hals der Hayat Ibraimova. Und zwar
aus der Strangfurche. Aus der Tatnacht. Hier unten auf dem zweiten
Bild sieht man die Darstellung derselben Polypropylen-Faser aus
einem sogenannten Mikrospektral-Photometer. Die Kurve ist doch
ziemlich auffällig, oder?"
L.: „Ja und? Was habe ich damit zu tun?"
Während Verena das zweite Blatt langsam aus ihrer Mappe zog und
sorgfältig neben das erste legte, fixierte sie Paul Lückner. Seine Lippen
waren schmal. Die Wangenknochen mahlten. Er knetete seine Hände
und rieb sich unruhig am Oberschenkel. Die Augenlider zuckten
nervös. Lückners Blick huschte von einem Blatt zum anderen,
andauernd hin und her. In der Falte oberhalb seines Bauchansatzes
wurden nun nach und nach ebenfalls dunkle Schweißflecke sichtbar.
G.: „Und hier, Freundchen, genau dasselbe. Raten Sie mal, woher
diese Faser – diese winzig kleine Polypropylen-Faser wie die vielen
anderen winzig kleinen Polypropylen-Fasern auch - wo die wohl
herstammen könnte?"
Lückners Gesichtsfarbe schwand, er wurde blass. Er war inzwischen
schweißnass und schluckte permanent trocken. Seine Unterschenkel
wanden sich von außen um jedes Stuhlbein und er versuchte seine Füße
zu verstecken.
L.: „Kei ... (Räuspern) Keine Ahnung
(Der Beschuldigte hat sich verschluckt, hustet)
„Sie werden‘s mir bestimmt sagen.“
V.: „Dies sind Fasern, die wir in Ihrer Hosentasche gesichert haben,
Herr Lückner. Lauter wunderschöne, blaue Polypropylen-Fasern. Eine
so schön wie die andere und alle und genau gleich zusammengesetzt
wie die von Hayat Ibraimovas Hals. ‚Eins zu was-weiß-ich-wieviel‘, hat
der Gutachter gesagt, nicht Verena? «
G.: "Genau. Das müssen Sie uns erstmal erklären, Herr Lückner. Aber
das können Sie wahrscheinlich nicht, oder?
(Schweigen. Von Bandstelle 02:14:59 bis 02:21:27)
Verena wusste, dass sie nun am entscheidenden Punkt angelangt waren.
Ihre Nackenhaare sträubten sich und sie musste sich zwingen, ruhig
sitzen zu bleiben. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte Lückner
am Kragen gepackt, ihn hin und her geschüttelt und angeschrien, er
solle endlich zugeben, dass er es war. Sie vermied es, zu Volland zu
schauen und wusste, auch er würde innerlich zwar beben aber trotzdem
unentwegt den Blick in Lückners Augen gerichtet haben. In diesem
Moment durfte man keinen Fehler machen.
Geständnisse brauchten Zeit. Lückners Verhalten war bereits ein
Geständnis. Jeder, der die Videoaufzeichnung der Vernehmung
anschauen würde, würde erkennen, was sich hier und jetzt nonverbal
abspielte. Seine Körpersprache war eindeutig. Trotzdem hatte er es
noch nicht ausgesprochen. Auf dem Protokoll der Vernehmung, das er
letztendlich irgendwann unterschreiben sollte, würde so noch nichts
Eindeutiges stehen. Sie mussten geduldig bleiben.
Also warteten sie weiter schweigend, bis Lückner sich zu entspannen
schien und Verena den entscheidenden Moment gekommen sah.