Susanne Mathies

Susanne Mathies, geboren in Hamburg, studierte zuerst BWL, dann englische Literatur und Philosophie. Sie schreibt Lyrik, Kurzgeschichten und Romane. Bisher hat sie drei Regionalkrimis veröffentlicht.

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Leseprobe aus dem Zürich-Krimi "Offline"

Je näher er der Hohlstraße kam, desto fremder fühlte er sich. Sein Leben lang hatte er auf der anderen Seite der Limmat gewohnt, zuerst im Seefeld, danach in Küsnacht, in dem schönen Häuschen direkt am See, das ihm die Eltern vererbt hatten. Und jetzt trabte er auf einem schmutzigen Gehweg entlang, neben vorbeibrausenden Trucks und Bussen, auf dem Weg zu seinem Etagenhotel, an derselben Ecke wie das „Manhattan“. Vor dem Hauseingang hielt er noch einmal inne, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Zu seiner Rechten gab es einen Schnellimbiss, das „Evin Kebap Haus“, das sich offenbar bei den Anwohnern großer Beliebtheit erfreute. An der Theke wurde heftig gebrutzelt, und dahinter drehte sich ein großer Kebap-Spieß. Es sah gut aus, und Jacques trat ein, in Erwartung eines deftigen Abendessens.

Während er die Leuchttafeln mit den angebotenen Gerichten studierte, kam ihm wieder ein ungebetener Gedanke in den Kopf. Wenn er und seine Frau bei Bekannten zum Essen eingeladen waren, und es gab etwas, was er nicht mochte, konnte er immer den Standardspruch anwenden: „Meine Frau findet, dass ich zu dick bin“, um auf einer kleinen Portion zu bestehen. Diesen Satz würde er jetzt nie wieder sagen. War er eigentlich wirklich zu dick? Er versuchte, sich in der Fensterscheibe von der Seite zu betrachten. Nein, das war eine ganz normale Figur, eine gute Silhouette, der Bauchansatz störte vielleicht ein bisschen, aber nicht zu sehr.

In diesem Imbiss roch das Fett nicht so frisch wie beim „Brückensprung“, und er bestellte sich ein Bier zu dem Kebab, um Geruch und Geschmack damit aufzufrischen. Im Gastraum standen drei Tische, aber nur an einem waren noch Plätze frei.

Er wandte sich an die weißhaarige Dame, die dort saß.

„Gestatten Sie?“

Sie nickte so heftig, dass die seidige Haarmähne ihr über die Augen wehte. Mit der ringbesetzten Rechten schob sie die Haarsträhnen wieder zurück, während ihre Linke an einem Glas Roséwein festhielt.

„Ich habe Sie gesehen“, sagte sie mit erstaunlich rauer Stimme. „Gestern, mit einem Koffer. Sie sind bestimmt Regulas neuer Hotelgast.“

Und er hatte gedacht, Zürich wäre heutzutage eine moderne Stadt, in der alle Menschen anonym nebeneinander her lebten, ohne sich umeinander zu kümmern – so konnte man sich täuschen. Er hätte natürlich gleich misstrauisch werden können, als er in den „20 minuten“ die Anzeige des Hotels sah: „Hohle Gasse Guesthouse – günstig wohnen in Zürichs neuem Zentrum! Geschäftsleute willkommen. Vermietung nur für ganze Tage. Alle Zimmer verfügen über eine Minibar mit fairen Preisen.“

Er nickte und nahm einen Schluck von seinem Feierabendbier. Vielleicht bekam er ja hier ein paar Milieu-Geschichten zu hören, die ihn von seinen eigenen Problemen ablenkten. Die Frau sah immerhin freundlich und harmlos aus.

„Verraten Sie mir Ihr Geburtsdatum?“

Aha, das war wahrscheinlich eine Hobby-Astrologin. Warum nicht, den Gefallen konnte er ihr schon tun.

„Ich bin am 9.5.1960 geboren. Interessieren Sie sich für Sternzeichen?“

Sie runzelte die Stirn. „Nein, ich interessiere mich für Menschen. Sie sind also Stier, geboren im Jahr der Ratte, ja, das erklärt einiges. Sie machen jetzt gerade eine schwere Zeit durch, das merkt man an Ihrer verschwommenen Aura.“

Verschwommene Aura? Wo war er hier nur hingeraten? Er versuchte, sein Kebap schneller zu essen, um eher entkommen zu können, mit dem Erfolg, dass einige der fettigen Hackfleisch-Streifen und ein ganzes Salatblatt aus dem Brot rutschten und nach unten fielen. Sie blieben kurz an seinem Jackett-Knopf hängen, seilten sich dann aber ab und ließen sich auf seinem linken Schenkel häuslich nieder. Obwohl er sie sofort aufpickte und versuchte, die Flecken mit der Serviette abzutupfen, war ihm die Vergeblichkeit seines Tuns bewusst. Der Anzug musste in die Reinigung. Auch das noch.

„Sie brauchen deswegen aber nicht nervös zu werden.“ Seine Gesprächspartnerin legte ihm begütigend eine Hand auf den Arm. „Ich weiß, es sieht nicht gut aus für Sie. Sie werden verfolgt, und schlechte Menschen wollen Ihnen Böses antun. Aber auch das Gute schläft nie! Manchmal darf man Vertrauen haben.“

Dazu konnte man nicht wirklich etwas sagen. Jacques sagte deshalb nichts, kaute an seinem Kebap und wartete auf das Ende des Vortrags. Jetzt fiel ihm auf, dass einige der Männer an den Nebentischen sich umgedreht hatten und ihn neugierig anschauten. Neugierig und belustigt. Schön, dass ich schon am ersten Abend hier so viele Freunde gewinnen konnte, dachte er. Seine Bierdose war leer, stellte er fest, aber die nächste würde er sich aus seiner Minibar holen.

„Auf mich zum Beispiel können Sie sich hundertprozentig verlassen. Ich habe noch nie jemandem etwas zuleide getan. Sie werden es nicht glauben, “ sie beugte sich vor, „aber ich besitze übersinnliche Fähigkeiten. Wenn ein Feind in der Nähe ist, spüre ich das sofort. Ich werde für Sie Ausschau halten und Sie warnen, wenn es wirklich gefährlich wird.“

So, jetzt hatte er es endlich geschafft. Er knüllte das leere Kebap-Papier zusammen und warf es in den Abfalleimer. Drei Meter Entfernung, beim ersten Versuch getroffen. Für seinen derzeitigen Zustand war das eine gute Leistung.

Dann wandte er sich der weißhaarigen Dame zu.

„Danke“, sagte er. „Ich bin Ihnen sehr verbunden. Wünsche noch einen schönen Abend!“

Sie nickte huldvoll. Als Jacques an den anderen Tischen vorbeiging, wurde ihm von allen Seiten ein „Schönen Abend“ nachgerufen.
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